Ein Kreis schliesst sich
1939 kam Sir Georg Solti als Flüchtling nach Zürich, 1997 dirigierte er in seinem letzten Konzert das Tonhalle-Orchester. Nun hat sein Steinway in der Kleinen Tonhalle eine neue Heimat gefunden.
Es war weit mehr als nur ein Steinway, der an einem Dienstagnachmittag per Camion in die Tonhalle Zürich gebracht wurde, gut verpackt in dicke Wolldecken: Es war ein Stück Geschichte. Denn der Flügel und die dazugehörige Klavierbank hatten dem Dirigenten Sir Georg Solti (1912-1997) gehört – und stehen jetzt als Erinnerung an eine ganz besondere Beziehung in der Kleinen Tonhalle.
Wie und warum dieses Instrument nach Zürich kam, das ist eine ebenso komplizierte wie schöne Story, und keiner kennt sie besser als Charles Kaye, der darin selbst eine entscheidende Rolle spielte. Der Brite war in den letzten zwanzig Jahren von Soltis Leben dessen «rechte Hand», und er findet es schlicht «wonderful», dass der Steinway nun ein neues, passendes Zuhause gefunden hat. Lange habe er zusammen mit Soltis beiden Töchtern darüber nachgedacht, wo der Flügel hinkommen solle, so erzählt er: An die Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest, wo Solti studiert hatte? Oder an die Juilliard School in New York, wo er Workshops leitete? «Da die Solti Foundation sich für junge Musiker*innen engagiert, war für uns entscheidend, dass der Steinway sowohl von grossen Pianist*innen als auch von Nachwuchs-Talenten gespielt würde.»
Die Idee für Zürich, so Charles Kaye, kam dann von Sir András Schiff, der Solti gut gekannt hat – «und sie leuchtete sowohl mir als auch Soltis Töchtern sofort ein». Denn der Dirigent war nicht nur mit dem Tonhalle-Orchester Zürich eng verbunden, sondern mit der Stadt überhaupt. 1939 war er als Flüchtling hierhergekommen, «und er hat nie vergessen, wie viele Leute ihm geholfen haben. Er war bis zuletzt unglaublich dankbar dafür». Da war etwa der Sänger Max Hirzel, bei dem Solti in der ersten Zeit wohnte; oder der Musikliebhaber Oscar Düby, der als Leiter der Berner Fremdenpolizei dafür sorgte, dass er in der Schweiz bleiben konnte.
Georg Solti stand damals ganz am Anfang seiner Karriere, «er hatte kein Geld und auch noch keinen Namen». Erst ein Jahr vor der Flucht hatte er in Budapest als Dirigent debütiert, ansonsten galt er vor allem als begabter Pianist. Als solcher gewann er 1942 den Concours de Genève, mit zweierlei Folgen: Einerseits bekam er eine beschränkte Arbeitserlaubnis, er durfte zum Beispiel unterrichten. Und andererseits begann sich sein Kalender mit Auftritten zu füllen. Er spielte Liszt mit dem Orchestre de la Suisse Romande, Mozart mit dem Zürcher Kammerorchester in der Tonhalle Zürich oder einen Klavierabend in Lugano.
Zürcher Testaufnahme
Aber vor allem wollte er dirigieren, «für ihn war klar, dass dies seine Zukunft war», sagt Charles Kaye. Solti bestürmte mit diesem Wunsch auch Maurice Rosengarten, der damals das Label Decca leitete. Und dieser gab irgendwann nach: Eine Testaufnahme sollte es sein, mit Beethovens «Egmont»-Ouvertüre und dem Tonhalle-Orchester Zürich. Eingespielt wurde sie im Zürcher Radiostudio – und sie legte den Grundstein für eine grosse Dirigentenkarriere.
1946 verliess Solti Zürich, weil er als Musikalischer Leiter an die Bayerische Staatsoper berufen wurde. Der Rest ist Geschichte: Als Chefdirigent der Frankfurter Oper, des Royal Opera House, des Covent Garden in London und des Chicago Symphony Orchestra, als regelmässiger Gast bei vielen bedeutenden Orchestern sowie als überaus fleissiger Decca-Vertragspartner gehörte er zu den erfolgreichsten Musikern seiner Generation. Sein Wirken wurde unter anderem mit 31 Grammys ausgezeichnet: ein Rekord, der erst 2023 von Beyoncé gebrochen wurde.
Soltis Beziehungen zu Zürich blieben während seiner ganzen Karriere stabil. 1949 etwa dirigierte er im Opernhaus Mozarts «Zauberflöte» mit Lisa della Casa als Pamina. Und immer wieder kehrte er in die Tonhalle zurück – meist als Dirigent, nur einmal noch als Pianist. Nach dreissig Jahren ausschliesslicher Orchesterleitung habe Solti das Klavier vermisst, erzählt Charles Kaye, «und als er wieder anfing zu üben, war er nicht mehr zu bremsen». So spielte er im Juni 1987 zusammen mit Murray Perahia Werke von Mozart und Brahms sowie Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug.
«Könnte ich es kaufen?»
Ein Jahr davor hatte Solti in Bologna – ebenfalls bei einem Konzert mit Murray Perahia – jenen noch mit Elfenbeintasten ausgestatteten Flügel entdeckt, der nun in der Tonhalle steht. Die Instrumente für das Konzert hatte Angelo Fabbrini geliefert, der sie als offizieller Steinway-Vertreter in Pescara jeweils so persönlich einrichtete, dass sein Name in schwungvoller Goldschrift auf dem Gehäuse angebracht wurde. Zahlreiche Pianist*innen spielten schon damals ausschliesslich Fabbrini-Flügel, darunter etwa Arturo Benedetti Michelangeli oder Maurizio Pollini. Und nun, so erzählt Charles Kaye, testete also auch Solti zwei dieser Flügel.
Beim zweiten war es dann Liebe auf den ersten Ton. «Er sagte: ‹Ich habe in meinem Leben noch nie auf einem so wundervollen Instrument gespielt, könnte ich es vielleicht kaufen?›». Fabbrini, der ebenfalls im Saal war, reagierte geschmeichelt, brauchte aber Bedenkzeit: Der Flügel sei für längere Zeit für andere Konzerte versprochen.
Acht Wochen später kam dann der Anruf an Charles Kaye: Ja, der Flügel sei zu haben. Pünktlich zu Soltis 74. Geburtstag wurde er nach London geliefert, und zwar heimlich, als Überraschung: «Seine Frau, Lady Valerie Solti, ging mit ihm in die Stadt für ein Essen mit Freunden, und wir brachten den Flügel in der Zeit in sein Studio. Als er zurückkam, konnte er es kaum fassen, dass er nun ihm gehörte.»
Das letzte Konzert
Knapp zehn Jahre danach, im Juli 1997, leitete Sir Georg Solti in der Tonhalle Zürich sein letztes Konzert – wenige Wochen vor seinem überraschenden Tod. Mahlers Sinfonie Nr. 5 stand auf dem Programm, und wie der «Tages-Anzeiger» berichtete, applaudierte das Publikum so lange, bis Solti um ein Ende bat: Es sei heiss, man möge doch jetzt bitte nach Hause gehen. Noch einmal zehn Jahre später erschien die Aufzeichnung auf CD, und sie zeigt nach wie vor, was ihn ausmachte: Wie explosiv und vital er bis zuletzt dirigierte, welche Präsenz das Orchester unter seiner Leitung ausstrahlte.
Das fiel vor rund zwei Jahren auch der Intendantin Ilona Schmiel auf, als ihr diese Mahler-Aufnahme beim Aufräumen ihrer CDs in die Hände kam: «Ich war ganz fasziniert, als ich sie wieder hörte – und kurz danach erhielt ich eine Mail von Charles Kaye, der über Soltis Flügel reden wollte.» So habe irgendwie von Beginn an alles zusammengepasst. Der auf die Unterstützung von Nachwuchstalenten ausgerichteten Solti Foundation sei es zum Beispiel sehr wichtig, dass junge Musiker*innen auf dem Flügel spielen können: «Dafür haben wir mit unserer Série jeunes ein perfektes Format.»
Bis zum eingangs erwähnten Dienstagnachmittag gab es allerdings noch viele Details zu klären. Und vor allem galt es, den Flügel von London nach Pescara zu schicken, wo er in der Fabbrini-Werkstatt während mehrerer Monate gründlich überholt wurde mit dem Ziel, die ursprünglichen Klangfarben wieder herzustellen. Aber nun wartet er in Zürich auf seine Einweihung, für die er in die Grosse Tonhalle verschoben wird. Sir András Schiff – der schon lange auf Fabbrini-Instrumente setzt – wird auf ihm Klavierkonzerte von Bach und Beethoven spielen (und dabei gleich sein Debüt als Dirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich geben). Auch Bachs «Kunst der Fuge» wird er darauf interpretieren.
Vielleicht werden der mittlerweile 91-jährige Angelo Fabbrini, Soltis Tochter Gabrielle oder ein Enkel anreisen. Und ganz bestimmt wird Charles Kaye da sein: «Ein Kreis schliesst sich», sagt er, «und ich bin sicher, dass Georg Solti darüber glücklich wäre.»
Sir András Schiff über Soltis Fabbrini-Steinway
«Sir Georg Soltis Steinway hat einen etwas älteren Klang, sehr schön, sehr persönlich. Er ist kein Massenprodukt und viel weniger auf Lautstärke und Brillanz getrimmt als aktuelle Instrumente. Angelo Fabbrini, der ihn einst einrichtete, hatte noch Pianisten wie Alfred Cortot im Ohr, das merkt man.
Ich habe 1986 das Konzert in Bologna gehört, bei dem sich Solti in dieses Instrument verliebt hat; ich spielte in derselben Woche ein Rezital darauf und fand es ebenfalls wunderbar. Als der Flügel nun nach Zürich geliefert wurde, war ich zufällig in der Stadt und habe ihn gleich ausprobiert. Die Revision in der Fabbrini-Werkstatt ist gelungen, und er passt gut in die Kleine Tonhalle. Er könnte auch grössere Räume füllen, man muss deshalb behutsam spielen – auf keinen Fall donnern!
Für mich ist es wichtig, dass der Flügel Elfenbeintasten hat; die waren noch erlaubt zu der Zeit, als er gebaut wurde. Das Gefühl beim Spielen ist ganz anders, sehr weich: Es ist wirklich ein drastischer Unterschied. Dass man dieses Instrument mit den heutigen Zoll-Bestimmungen von London über Italien in die Schweiz bringen konnte, grenzt an ein Wunder. Aber der Aufwand hat sich gelohnt, der Steinway hat hier den richtigen Platz gefunden.»
Der Flügel im Film
Béla Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug, die Sir Georg Solti 1987 zusammen mit Murray Perahia, David Corkhill und Evelyn Glennie in Zürich aufführte, ist gleich doppelt dokumentiert. Sowohl in einer Grammy-gekrönten Aufnahme als auch in einem Dokumentarfilm von Katya Krausova (Portobello Productions) spielt er sie auf jenem Flügel, der nun in der Tonhalle Zürich steht. Bartóks Sonate, die der Basler Mäzen Paul Sacher in Auftrag gegeben hatte, bedeutete Solti viel. Er hatte einst an der Franz-Liszt-Akademie in Budapest unter anderem bei Bartók Klavier studiert – und war 1938 bei der ungarischen Erstaufführung des Werks durch den Komponisten und seine Frau als Blattwender dabei gewesen. Der Film ist als Geschenk der Produzenten hier abrufbar.
Die englische Version des Dokumentarfilms finden Sie hier.
